Begonnen hat die Misere damit, als eines Abends ein betrunkener Gast in unserem Gasthaus mit dem
Fahrrad vom Extrazimmer ins Gastzimmer fuhr. Er hatte zuvor das Fahrrad durchs Fenster ins Extra-
zimmer buxiert und war dann unter großem Gelächter der anderen Gäste ins Gastzimmer gefahren.
Dies fand mein Vati gar nicht lustig! War er doch für Ruhe und Ordnung zuständig. Also, wenn da
Jeder käme... Also stellte er den Übeltäter lauthals zur Rede. Ein anderer Gast mischte sich auch- heftig gestikulierend - ein und verpaßte so mit seinem Siegelring dem Vati eine auf die Nase.
Dieser ging daraufhin sofort k.o. Ein heftiger Blutverlust ( Wein macht das Blut flüssiger- und als Wirt mußte Vati ja auch geeicht sein) und eine Gehirnerschütterung waren die Folgen, die Vati ins Spital brachten.
Er blieb einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus, beobachtete selbst-streng- das Liebesleben der
Krankenschwestern, beobachtete unvorstellbare Dinge, die sicherlich auf seine vorübergehend- erzwungene
Abstinenz zurückzuführen waren. Weiße Mäuse sah er aber keine.
Inzwischen machte sich der momentane Verehrer meiner Mutti zuhause breit, indem er einfach aus dem
Fremdenzimmer ins elterliche Gemach zog, dies war sicherlich bequemer für beide.
Doch jeder Spitalsaufenthalt ist einmal zuende, und ich hatte das Vergnügen, Vati abzuholen. Da er seiner-
zeit noch selbst mit dem Auto ins Spital fuhr, stand der Wagen vor der Unfallabteilung abgestellt. Ich
selbst war leider nicht in der Lage, den Wagen zu fahren, da meine Eltern zwar versprochen hatten, mir
den Führerschein zu bezahlen, falls ich die Gesellenprüfung schaffte, ich diese mit Auszeichnung auch
absolvierte, dann aber leider seither nur Zahlungen für diverse Dinge zu tätigen waren, und so war für
mich kein Geld da. Lohn bekam ich als Tochter selbstverständlich auch keinen, mir winkte ja die Über-
nahme des Geschäftes später einmal. also fuhr ich mit der Bahn.
Vati kam mir seltsam vor; ich saß neben ihm, und er fuhr nach den Regeln des Kreisverkehrs hinaus, nur
gab es dort keinen Kreisverkehr, sondern nur eine Mauer. Es krachte, wir hielten gezwungenermaßen an,
ich stieg aus, rannte zur Verwaltung, machte einen fürchterlichen Krach: einen Menschen in d e m Zu-
stand mit dem Auto fahren zu lassen...! Dies sei ja der Gipfel der Verantwortungslosigkeit!!!
Inzwischen fuhr Vati mit beschädigter rechter Vorderfront, ansonsten fahrbereit, nach Hause. Nach ca.
10 Kilometern stoppte ihn die Gendarmerie, die man ihm nachgeschickt hatte, ließ ihn ins Röhrchen blasen.
Ergebnis negativ- :Sie dürfen weiterfahren- hysterisches Mädel!
Später dann kam ich auch -mit der Bahn- nach Hause.
Vati erschien mir in den nächsten Tagen etwas merkwürdig, etwa wie ein Spürhund auf der Suche nach
Heroin. Doch es war nichts zu finden. Der Hausfreund schlief schon wieder brav im Fremdenzimmer.
Allerdings bemerkte auch er Vatis Nervosität. Er alarmierte einen Bekannten über die möglichen Ge-
fahren, die durch Vati entstehen könnten - und der Bekannte handelte.....
Eines „schönen“ Herbstmorgens geschah es! Ein Rettungswagen fuhr vor unserem Gasthof vor, zwei
Männer stiegen aus, hielten etwas Weißes in der Hand und - ehe wir uns versahen - war mein Vati in eine
Zwangsjacke gesteckt worden - und - sofort ins Auto hinein - und ab- ins Spital - zur Entwöhnung - zu
seiner Besserung - wie es hieß.
Der Liebhaber beruhigte sich wieder, zog wieder ins elterliche Schlafgemach, mein Freund, der Erste, ließ mich sofort wie eine heiße Kartoffel fallen, bei d e n Zuständen!!! Die Leute redeten und unser Ruf war ruiniert
Vor allem mein Ruf! War ich doch die Tochter eines Säufers und einer lustigen Wirtin. Dabei war ich 18
Jahre alt geworden, bis ich überhaupt einen intimen Freund hatte. Alle meine Freundinnen hatten schon
Erfahrungen, nur ich nicht. Ich wollte ja nicht eine sein, die andauernd Liebhaber verbraucht, ich wollte
doch alles in Ordnung haben, gut und brav sein, wie man es im Kloster immer propagierte.
Die Braven und Guten werden doch belohnt, sie bekommen doch zuletzt den Märchenprinzen oder werden
mit Gold überworfen. Jeder liebt sie, das weiß man ja, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch
heute. Und glücklich. So ist es. So steht es geschrieben.
Doch bei uns schienen die Uhren verkehrt zu gehen. Die Stammgäste des Gasthauses dezimierten sich -
peinlich, nach dem Wirten zu fragen. Diejenigen, die doch kamen, sahen einen neuen Wirt, der auch in
puncto Trinken nicht hinter dem Original nachstand.
Meine „Buben“ im Extrazimmer, für die ich zuständig war, hielten mir die Treue, nur der Eine nicht. Dem
wurde der Boden zu heiß, obwohl nun im Herbst die Kälte sichtlich zunahm, dies spürte ich genau.
Nach drei Wochen ersuchte mich Mutti , ich möge Vati abholen fahren. Sie gab mir Geld , und ich fuhr
mit dem Zug alleine nach Wien, anschließend mit dem Autobus nach Klosterneuburg - für mich ein
richtiges Abenteuer! Allerdings fand man Vati im dortigen Krankenhaus nicht. Als ich erzählte, wes-
halb er eingeliefert wurde, klärten sie mich auf: Vati sei sicherlich in Gugging, in der Nervenheilanstalt,
also im Narrenhaus, wie man bei uns zuhause spöttisch sagte. Und dort war er dann auch.
Auf dem Weg zu seinem Pavillon sah ich eine Kindergruppe. Ich liebe Kinder! Ich lächelte den
Kindern zu , winkte - und sie sahen mich an. Ich hatte bis dato keine behinderten Kinder gesehen, ich
hatte nicht einmal genau gewußt, daß es behinderte Kinder gibt, und noch dazu so viele - und man sah
ihnen die Behinderung an, und wie man ihnen diese ansah!
Etwas später kam ich an Vatis Pavillon an. Ich ging hinein, verlangte ihn, erzählte, daß ich gekommen
sei, ihn abzuholen. Da mußte ich mit einem älteren Arzt in dessen Zimmer gehen und ihn Rede und
Antwort stehen. Er sah mich durchdringend an, trotzdem hielt ich seinen Blicken stand und erläuterte
ihm meine Version von der Motivation von Vatis Trunksucht. Alice Miller hätte ihre Freude an mir ge-
habt, aber damals, mit achtzehn, wußte ich ja noch gar nicht, wer Alice Miller ist.
In Wien, bei einer Rolltreppe, stürtze Vati, der ganz verstört war, aber diesmal blutete er nicht.
Zuhause angekommen, herrschte gespenstische Ruhe im Haus. Überall fand ich Zettel, die beschriftet waren.
Z.B. in der Waschküche bei der Schmutzwäsche: Mit 90 Grad waschen..... morgen 2 kg Schweinefleisch
Schale und 1 Leber bestellen ( dies war natürlich in der Küche zu lesen)... Meinl anrufen und Zucker,
1 kg Kaffee , Mehl etc. Bestellen.....u.s.w.
Die Vögel waren ausgeflogen!
Ich hatte in den folgenden drei Monaten viel zu tun und eigentlich wenig Zeit, nachzudenken. Obwohl sehr
viele Stammgäste uns mieden wie Leprakranke, war doch viel Arbeit zu verrichten. Im Geschäft, in den
Fremdenzimmern, im Extrazimmer: Meine Buben hielten ja zu mir! Bis auf den Einen...
Wäschewaschen, bügeln, kochen. Einen kompletten Gasthof auf einmal zu führen, das forderte einen schon!
Nebenbei therapierte ich ja Vati! Was so ein Psychiater kann, das kann ich schon lange!...und ich konnte!!!
Vati ging es immer besser!
Dann kam Weihnachten! Da erlitt Vati einen Rückfall. Nein, er trank nichts, aber er wollte Mutti wieder
zuhause haben. Also schrieb ich, da ich ihren Aufenthalt schon kannte, einen sehr, sehr lieben Brief.
Ich wußte, wenn sie ihn lesen würde, würde sie sofort, ohne das Gefühl, ihr Gesicht zu verlieren ,wieder-
kommen. Jedes Wort in diesem Brief war in Vatis Sinn, i c h log nur!
Es kam der Heilige Abend! ..Und Mutti kam nicht. Es kam auch kein Anruf. Die letzten Gäste gingen,
Vati wusch das Gastzimmer auf, ich reparierte die Musicbox...und so arbeiteten wir den Heiligen Abend tot.
Seit dieser Zeit ist dies nur noch irgendein Abend für mich, ich wurde nicht belohnt.
Mich wundert es nur, daß wir Beide an diesem Abend uns nicht angesoffen hatten!!
Im Fasching dann, später, kam Mutti wieder retour. Der Liebhaber hatte sich verflüchtigt, es war zuwenig
Geld für ihn da. Schmalzbrot anstatt Salami - das sagt alles!
Mutti sagte nur :“Da bin ich wieder! Ja, wie siehst du denn aus?! Wie eine Flitschen angeschmiert und der
kurze Rock! Höchste Zeit, daß ich wieder da bin!“ Derselben Meinung waren auch Vati - und die Stamm-
gäste. Und weil Fasching war, trafen sie sich alle wieder ein - das Geschäft blühte, die Seele des Betriebes
war wieder da - und außerdem braucht die Kleine wieder eine Mutter, die verkommt ja sonst! Angeschmiert
provokant gekleidet und goschert, wie die ist!!
Alles ging wieder seinen gewohnten Weg, neue Lover, Alkohol - aber diesmal ohne Unfall - und der Sprung
in der Seele der Kleinen wurde fest mit Make up zugedeckt und mit einer noch provokanteren Art und
einer dicken Schicht Galgenhumor vergessen gemacht.